Teil V
6 Der Ansatz von Johnson
Pascual-Leones Mitarbeiterin Janice Johnson hat die Konzepte des dialektischen
Strukturalismus auf die bilinguale Problematik angewendet, um zu kausalen Be~
schreibungen der Unterschiede und ihrer Bedingungen zu gelangen, die sich
nach der empirischen Forschungslage wie zwischen bilingualen und monolingua~
len Kindern in bestimmten kognitiven Bereichen gezeigt haben (Johnson 1991).
Zur Vorstellung dieses Ansatzes soll im folgenden zunächst etwas Terminolo~
gie aus der Neo-Piaget-Theorie erklärt werden.
Um die Welt zu begreifen und auf sie zu reagieren, entwickelt das Kind be~
stimmte Organisationsprinzipien, die sein kognitives System konstituieren. Diese
Erkenntnisstrukturen lassen sich in verschiedene Bereiche aufgliedern.
Die einfachsten Strukturen beziehen sich auf konkrete Gegenstände oder Perso~
nen aus der Umgebung des Kindes. Es handelt sich um interne Repräsentatio~
nen von Objekten der Außenwelt. Sehr früh verfügt das Kind zum Beispiel über
eine Repräsentation für seine Mutter. Wenn es dann z.B. einen Teddybär be~
sitzt, entwickelt es für diesen speziellen Teddy eine Repräsentation. In der
Bezeichnungsweise Piagets (1975) heißen diese Strukturen infralogisch.
Weiter entwickelt das Kind Strukturen einer höheren Ordnung, mit denen es
die Objekte der Außenwelt in Klassen oder Kategorien einteilt. Mit dem Kon~
zept "Hund" erfaßt es z.B. die Klasse sämtlicher Hunde, etwa auf der Grundla~
ge von Merkmalen wie Vierbeiner, Haustier, bellen usw. Diese Strukuren heißen
bei Johnson (1991) logologische Strukturen, Piaget (1975) nennt sie logische (lo~
gisch-arithmetische) Strukturen.
Eine dritte Art sind die linguistischen Strukturen. Sie verknüpfen die in der
Sprache vereinbarten Zeichen mit den Bedeutungen und werden durch den Kon~
takt mit der sozialen Umwelt, durch die Kommunikation erworben. Ihre Bedeu~
tung können die linguistischen Strukturen einerseits von logologischen Struk~
turen bekommen, etwa wird das Konzept "Hund" aus dem vorigen Beispiel
früher oder später mit dem Wort "Hund" kodiert, wobei für das Kind "Hund"
nicht dasselbe bedeuten muß wie für seine Mutter, eventuell bezeichnet das
Kind ja zuerst fälschlicherweise auch andere Tiere als Hunde (zu dieser "Über~
generalisierung" vgl. Szagun, 1983, S. 111). Andererseits können natürlich auch
infralogische Strukturen linguistisch kodiert werden, wenn ein Kind Bezeich~
nungen für nur einmal vorhandene Objekte seiner Umwelt lernt: "Mama" für
die Mutter, "Waldi" für den Hund usw. Diese werden für seine alltägliche
Kommunikation anfangs sicherlich wichtiger sein.
Im Gegensatz zu den linguistischen Strukturen kann das Kind seine infralogi~
schen Strukturen selbst aus seiner Erfahrung und Wahrnehmung aufbauen.
Zum Erwerb der logologischen Strukturen gibt es prinzipiell zwei Möglichkei~
ten. Die erste besteht darin, daß das Kind sie aus seinen infralogischen Struk~
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turen zusammensetzt. Dazu muß es seine Erfahrungen und Wahrnehmungen so
koordinieren, daß es bei all den Repräsentanten einer Kategorie das Gemeinsa~
me erkennt. Johnson nennt dies "internalizing invariances across infralogical
structures" (Johnson 1991, S.194). Das obengenannte Beispiel der logologischen
Struktur "Hund" mit den charakteristischen Invarianzen Vierbeiner, bellen usw.
verdeutlicht diesen Prozess, den man als induktiv bezeichnen könnte.
Die zweite Möglichkeit ist das Lernen einer logologischen Struktur aufgrund
der Erklärung durch einen Gesprächspartner, der eine Definition abgibt. Da~
durch erfährt das Kind - wenn es die Erklärung versteht - neben dem neuen
Konzept auch die Bezeichnung dafür, das Vorgehen wäre deduktiv. Beispiels~
weise könnte eine Mutter ihrem Kind erklären, daß ein Zugvogel ein Vogel ist,
der wegen der Kälte im Winter nach Afrika fliegt.
In der englischsprachigen Literatur nennt man die erste Methode auch "bot~
tom-up", da eine Kategorie höherer Ordnung aus vielen Beispielen oder Reprä~
sentanten abgeleitet wird. Die zweite Methode heißt entsprechend "top-down",
sie vermittelt sprachlich (durch Instruktion) die höheren Strukturen, die dann
aber als Konzepte sprachfrei existieren können. Logologische Strukturen lassen
sich also in keinem der beiden Fälle mit linguistischen Strukturen identifizieren
oder auf sie zurückführen.
Diese Konzepte lassen sich nun auf bilinguale Kinder anwenden. Ein solches
Kind macht in seiner zweisprachigen Umgebung die Erfahrung, daß eine Sache
mit zwei verschiedenen Namen -für jede Sprache ein eigener- bezeichnet wird.
Diese Erfahrung muß umso stärker und nachhaltiger sein, je balancierter der
Bilingualismus ist, da im balancierten Fall beide Namen gleichberechtigt neben~
einanderstehen.
Entsprechend liegt die Vermutung nahe, daß ein bilinguales Kind ceteris pari~
bus eher als ein monolinguales zu einem Verständnis für die Willkürlichkeit
der Zuordnung zwischen Name und Bedeutung kommt.
Nach Piaget ist Erkenntnis und Lernen eng mit dem Entdecken von Invarianz~
mustern verbunden. Wir haben oben gesehen, wie sich die logologischen Struk~
turen durch das Erkennen von Invarianzen in den infralogischen Strukturen
herausbilden können. In der zweisprachigen Situation wird die Bedeutung (also
die logologische bzw. infralogische Struktur) konstant gehalten, während die
sprachliche Form (also die linguistische Struktur) variiert. Dadurch verfesti~
gen sich die logologischen und infralogischen Strukturen und sind dadurch
deutlicher voneinander getrennt. Auch dadurch, daß es keine Eins-zu-Eins-Be~
ziehung zwischen linguistischen und infralogischen (bzw. logologischen) Struk~
turen erlebt, wird eine Unterscheidung zwischen diesen Strukturen gefördert.
Malakoff (1988) hat als deutlichen Hinweis für eine solche Trennung gefunden,
daß bilinguale Kinder bei einem Analogien-Test höhere Punktzahlen erzielten,
wenn sie nicht die ganze Aufgabe in einer Sprache lösen sollten, sondern den
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Analogiestamm in der einen Sprache präsentiert bekamen und in der anderen
Sprache antworten sollten. Offensichtlich verließen sich die Versuchspersonen
bei diesem Verfahren weniger auf sprachliche Assoziation als auf (logo-)logi~
sches Nachdenken über die Beziehung der Begriffe in der Analogie.
Je klarer die Trennung zwischen logologischen und linguistischen Strukturen
ist, desto eher müßte es einem Kind möglich sein, die Sprache selbst zum Ge~
genstand der logischen Analyse zu machen und so Aufgaben aus dem metalin~
guistischen Bereich zu lösen.
Umgekehrt stellt sich die Frage, welche Rolle die Sprache beim Lösen nichtlin~
guistischer kognitiver Aufgaben spielt. Diese Rolle ist von russischen Psycholo~
gen sehr betont worden (z.B. Luria 1961, Vygotsky 1978).
Betrachten wir das Beispiel eines Kindes, daß einen Tisch saubermachen soll.
Seine Mutter könnte ihm diese Aufgabe durch eine Reihe von Anweisungen er~
leichtern, etwa nach dem folgenden Schema:
1) Du sollst Wasser holen und ein Wischtuch!
2) Danach stellst du die Bücher vom Tisch ins Regal!
3) Dann das Wischtuch naßmachen und auswringen!
4) Am Ende mußt du den Tisch abwischen!
Wenn das Kind die Aufgabe einige Male so gelöst hat, kann es vielleicht den
Tisch ohne Anleitung der Mutter saubermachen, indem es die Anweisung aus
seiner Erinnerung selbst rekonstruiert:
1) Ich soll Wasser holen und ein Wischtuch!
2) Danach stelle ich die Bücher vom Tisch ins Regal!
3) Dann das Wischtuch naßmachen und auswringen!
4) Am Ende muß ich den Tisch abwischen!
Auch Erwachsene begleiten häufig ihre Handlungen damit, daß sie etwas vor
sich hinmurmeln oder im stillen mit sich selbst sprechen. Diese "innere" Spra~
che kann man als internalisierte Anweisungen verstehen, die geeignet sind, die
Handlungen zu kontrollieren
Nach Johnson (1991) entwickelt das Kind zwei Arten von Strukturen zur Kon~
trolle kognitiver Prozesse, die sie "executives" nennt. Ich bleibe bei der im
Deutschen passenderen Bezeichnung Strategien.
Dabei sind Aufgabenstrategien (Pläne) für das Lösen von Aufgaben zuständig,
sie beziehen sich auf die äußere Situation und kontrollieren allgemein gesagt
die Interaktion des Subjekts mit der Umgebung.
Die Kontrollstrategien überwachen den Einsatz der dem Subjekt zur Verfügung
stehenden inneren kognitiven Ressourcen, sie aktivieren geistige Kapazitäten wie
mentale Aufmerksamkeit.
Die genannten Strategien können sowohl infralogischer als auch logologischer
Art sein, je nachdem, ob sie in einem spezifischen Kontext erworben wurden
und in einem solchem wirksam sind oder ob sie in einer ganzen Klasse von
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Situationen tätig werden können.
Wenn solche Strategien bei der Regulierung von Handlungen effektiv sein sol~
len, ist es sehr wichtig, daß sie Aktivität nicht nur induzieren, sondern auch im
geeigneten Moment hemmen können, dies haben wir beim Zusammenspiel des
M-Operators und des I_Operators im letzten Abschnitt gesehen.
Johnson vertritt nun die Hypothese, daß das Lernen zweier Sprachen die Kon~
struktion bestimmter Arten von Strategien fördert, die wiederum die Leistung
bei ganz bestimmten Typen von Aufgaben steuern. Dabei können diese Aufga~
ben- und Kontrollstrategien infralogisch, d.h. situationsabhängig, oder logolo~
gisch, d.h. in verschiedenen Kontexten anwendbar, sein.
Wie oben beschrieben lassen sich solche Strategien nach Vygotsky und Luria
als Internalisierungen von Strukturen sozial - d.h. in erster Linie: sprachlich -
vermittelter Situationen verstehen, wobei die Anleitung und Kontrolle der
Handlungen von der äußeren auf die innere Sprache übergeht.
Um Handlungen hervorzurufen, genügt dabei die (Start-)Signalfunktion der
Sprache, während sie für die Hemmung, Unterbrechung und das Wiederanstoßen
von Handlungen, kurz, für die effektive Kontrolle im oben beschriebenen Sinne,
zusätzlich eine Symbolfunktion haben muß. Die Sprache muß eine vom unmit~
telbaren Kontext unabhängige Bedeutung annehmen, um Aktivität einzuschrän~
ken, von eventuell in der Zukunft auftretenden Bedingungen abhängig zu ma~
chen und zu regulieren. Im Laufe der Entwicklung sollte die Sprache nach und
nach ihre Kontextabhängigkeit verlieren, was in der dialektisch-konstruktivisti~
schen Terminologie einem Übergang von infralogischen über logologische zu
linguistischen Strukturen entspricht.
Johnson argumentiert, daß für die Entwicklung der Sprache eines Kindes in
diesem Sinne eine häufige Variation der sprachlichen Mittel unter Beibehaltung
von Kontext und Inhalt förderlich ist. Diese sprachliche Vielfalt kann sicherlich
erreicht werden, wenn die (sprachgewandten) Eltern dem Kind einen entspre~
chenden Formenreichtum anbieten. Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß
die soziale Interaktion in verschiedenen Sprachen erfolgt, was in einer bilingua~
len Umgebung der Fall ist. So wird auf natürliche Weise der sprachliche
Aspekt variiert, was eben die Abtrennung des sprachlichen Aspekts von der
interessierenden Struktur fördert, die Gegenstand des Gesprächs ist, und so die
Dekontextualisierung beschleunigt.
So kann Bilingualität die Lösung der engen Beziehung zwischen Sprache und
Referenten und damit auch die Objektifizierung der Sprache erleichtern, so daß
logologisches Nachdenken über die Sprache, d.h. eine eine verstandesmäßige
Untersuchung ihrer Strukturen und Regeln möglich wird.
Zunächst ist die Verbindung zwischen lingustischen (Sprache) und infralogi~
schen Strukturen (Bedeutung) stark. Aber durch das Erleben vieler kommunika~
tiver Situationen erkennen wir in der Sprache Invarianzen, die wir dann als ka~
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tegoriale, logologische Strukturen zusammenfassen. Johnson erläutert dies am
Beispiel des Konzepts Kausalität. Kausalität drücken wir in der deutsche Spra~
che mit der linguistisch-logologischen Struktur "weil Sx, Sy" aus, wobei Sx
und Sy Platzhalter (Variable) für Sätze sind, die die Struktur ausfüllen können.
Diese Struktur ist die Gattung der Kausalsätze. Ein Repräsentant diese Struktur
wäre ein konkreter "Weil-Satz", in dem für die Platzhalter Sx und Sy Sätze
eingesetzt werden, die sich auf konkrete, infralogisch repräsentierte Ereignisse
x und y beziehen. Wir können nun zwei Arten von Richtigkeit unterscheiden,
die man einem solchen Kausalsatz zuschreiben kann. Ein Urteil über den Wahr~
heitsgehalt des Satzes müßte die Beziehung zwischen den Ereignissen x und y
beurteilen und müßte daher auf der infralogischen Ebene stattfinden. Ein Urteil
über die grammatische Richtigkeit des Satzes müßte dagegen auf der abstrak~
teren linguistisch-logologischen Ebene stattfinden.
Die logische Kategorie der Kausalität ist allen Sprachen gemeinsam, während
die Gattung der "Weil-Sätze" sprachspezifisch ist. Die Loslösung logologischer
funktionaler Kategorien von den linguistischen Strukturen dürfte durch die
größere Variationsbreite der entsprechenden sprachlichen ußerungen in bilin~
gualen Situationen gefördert werden.
Piagets Standpunkt unterscheidet sich von dem Vygotskys darin, daß er eher in
der Interaktion des Kindes mit seiner physischen Umgebung als mit seiner so~
zialen Umgebung den Motor der Entwicklung sieht. Die logologischen Struktu~
ren resultieren nach Piaget aus der Koordinierung von Beziehungen zwischen
den eigenen Handlungen anstatt aus internen Rekonstruktionen von außen
gesteuerter Handlungspläne. Für diese Koordinierung benötigt das Kind die
symbolische Funktion, um sich an Handlungen zu erinnern, sie im Geiste vor~
wegzunehmen und sie miteinanander zu vergleichen.
Diese notwendige Eigenschaft bezeichnet Sigel (1981) als "repräsentationale
Kompetenz". Sie wird durch sog. mentale distanzierende Erfahrungen erworben,
das sind Ereignisse, die geistige Bewegung in Raum und/oder Zeit erfordern.
Distanzierende Strategien treten hauptsächlich verbal auf, wenn Eltern durch
Fragen ihr Kind dazu anregen, sich vom aktuell beobachtbaren Kontext einer
Situation zu lösen. Das Ausmaß der Loslösung kann dabei unterschiedlich sein,
das höchste Niveau des Distanzierens wird benötigt, um kognitive Konflikte zu
lösen oder Resultate von Transformationen vorherzusagen. Fragen können beim
Kind eine mentale Diskrepanz hervorbringen, ein Ungleichgewicht im Sinne
Piagets. Insofern kann man das Stellen von Fragen als distanzierende Strategie
auffassen, durch die die Entwicklung dekontextualisierter Strukturen gefördert
werden. Natürlich kann das Kind nicht alle Fragen lösen, aber es erhält durch
die Konfrontation mit der beschriebenen Diskrepanz zumindest die Gelegenheit,
sich damit auseinanderzusetzen und je nach seinen Möglichkeiten Teile seines
kognitiven Apparats zu restrukturieren.
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In einer bilingualen Umgebung haben die Eltern die Möglichkeit, in solchen
mental distanzierenden Situationen zusätzlich die Sprache zu wechseln, in der
das Kind angeredet wird. Wenn dies eine Trennung der linguistischen Struktu~
ren von den logologischen und infralogischen Strukturen fördert, könnte da~
durch die repräsentationale Kompetenz des Kindes zunehmen. Außerdem ist es
möglich, daß durch Eigenschaften der zwei beteiligten Sprachen selbst vom
Kind produktive Diskrepanzen erfahren werden, wenn es etwa die Schwierigkeit
beobachtet, Sachverhalte bedeutungsgleich von einer Sprache in die andere zu
übersetzen, oder wenn es grammatische oder phonetische Unterschiede zwi~
schen den Sprachen wahrnimmt.
Im letzten Abschnitt über die Theorie Pascual-Leones wurde deutlich, daß
mentale Strategien eine große Rolle bei der Steuerung von Leistung spielen.
Aufgabenstrategien koordinieren dabei die erforderlichen Aktionsschemata bei
der Lösung, während Kontrollstrategien den Einsatz der kognitiven Ressourcen
regulieren. Weiter unterscheidet der dialektische Konstruktivismus die Strate~
gien in infralogische und logologische Strukturen. Die infralogischen entstehen
innerhalb bestimmter Kontexte und werden oft durch Übung entwickelt. Die
logologischen Strategien beziehen sich auf Invarianzen in der Durchführung von
Aufgaben, die erst durch Wiederholung in verschiedenen Kontexten in neue
Strukturen höherer Ordnung integriert werden, wobei vor allem geistige An~
strengung nötig ist: durch Vergleichen und Unterscheiden muß das Gemeinsame
abstrahiert werden. Außerdem ist häufig die Vermittlung durch die Bezugsper~
sonen des Kindes hilfreich, die explizit die invarianten Aspekte der entspre~
chenden Situationen oder Durchführungspläne betonen oder erklären können.
Solche Aspekte, die in ganz verschiedenen Kontexten wichtig sein können,
wären z.B. Erinnern aus dem Gedächtnis, geistiges Bewegen vorwärts und
rückwärts in der Zeit, oder die zeitliche Organisation der Durchführung.
Kontrollstrategien, bei denen mentalen Energie bereitgestellt und zugeteilt wird
(vgl. Pascual-Leones E-Operator), sind für die Bewältigung von Situationen nö~
tig, die dem Kind keine starke kontextuelle Unterstützung bieten. Dasselbe gilt
für Probleme, für die die bisherige Lerngeschichte des Kindes nahezu irrelevant
ist, etwa weil das Problem völlig neu ist. Am dringendsten braucht man Kon~
trollstrategien bei der Lösung irreführender Aufgaben, das sind wie oben be~
schrieben Situationen, die durch besondere Kontextfaktoren Aktivierung von
Strukturen nahelegen, deren Verwendung mit der korrekten Lösung nicht ver~
einbar ist.
Bilinguale Kinder haben besondere Gelegenheiten, Kontrollstrategien zu entwik~
keln. So verlangen viele Situationen von einem bilingualen Kind schnelles und
häufiges Wechseln zwischen den beiden Sprachen. Ein Beispiel ist das Überset~
zen zwischen zwei Sprachen A und B. Zuerst muß sich der Übersetzer vom
linguistischen Niveau der Sprache A geistig zum logologischen Niveau der
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Bedeutung bewegen, die ein Ausdruck in der Sprache A hat. Dann ist es im
allgemeinen nötig, weiter zur konkreten infralogischen Entsprechung zu gehen,
die im aktuellen Kontext gemeint ist. Der Weg zur Sprache B führt wieder
über das logologische Niveau weiter zum linguistischen Niveau der Sprache B.
Diese Vorgang wiederholt sich beim Übersetzen des nächsten Abschnitts, so
daß ständig zwischen den Repräsentationsniveaus gewechselt werden muß.
Damit erfordert der Prozeß eine Konzentrierung auf ständig andere Strukturen,
so daß eine entsprechende Strategie sich herausbildet.
Wenn das Kind zwischen zwei Personen dolmetschen muß, die beide nur ihre
Muttersprache sprechen, kommen weitere Schwierigkeiten dazu. Das Kind muß
in beiden Richtungen übersetzen, und selbst bei balancierter Bilingualität ist es
normal, daß ihm die eine Richtung leichter fällt. Der oben beschriebene Prozeß
vollzieht sich abwechselnd von Sprache A in Sprache B und ungekehrt. Um so
stärker verlangt die Situation von dem Kind, Strategien zur Aktivierung der
entsprechenden mentalen Strukturen zu entwickeln.
Das Dolmetschen in zwei Richtungen tritt sicher seltener auf als das einfache
Übersetzen. Es gibt aber häufig Fälle von Zweisprachigkeit, bei denen eines
oder beide Elternteile die Hilfe ihres Kindes in Anspruch nehmen, da es sich in
der Sprache besser auskennt.
Forschungsergebnisse im Lichte der Theorie Johnsons
Mit Hilfe der oben beschriebenen Ideen kann man viele Ergebnisse der Bilingu~
alismusforschung verstehen. Kurz gesagt, durch die oben angeführten Mecha~
nismen der strukturellen Bereicherung infolge der bilingualen Situation können
bilinguale Kinder eher in der Lage sein, Probleme vom irreführenden Typ zu
meistern, während bei kognitiven Aufgaben ohne irreführende Aspekte sich auf
Grund der Forschungslage keine deutlichen Unterschiede ergeben. Johnson
betont aber, daß der Erwerb von Dezentrierungsstrategien, die das Lösen irre~
führender Fragen erleichtern, auch durch andere Umstände als die Bilingua~
lität gefördert werden kann.
Sie hat die in der Bilingualismusliteratur beschriebenen Tests in vier Gruppe
eingeteilt:
1) Verbale Aufgaben, die auf dem logologischen Niveau gelöst werden müssen,
während die Situation infralogisches Verarbeiten nahelegt
2) Perzeptuell-kognitive Aufgaben, bei denen die anfänglich vorliegende Organi~
sation der Stimulus-Situation mit der zur Lösung notwendigen Restrukturierung
in Konflikt tritt
3) Aufgaben, die verbale Begleitung der durchzuführenden Handlungen erfor~
dern, wobei verbale und motorische Handlung miteinander in Konflikt treten
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4) Verbale Aufgaben ohne die beschriebenen kognitiven Konflikte
Nur die ersten drei Typen stellen irreführende Aufgaben dar.
Verbale Aufgaben in irreführenden Situationen
Diese Art von Aufgaben zeichnen sich dadurch aus, daß Kinder häufig versu~
chen, sie auf dem infralogischen Niveau zu lösen, während die korrekte Durch~
führung logologisches Verarbeiten erfordert. Oft scheinen bilinguale Kinder den
Konflikt zwischen den beiden Verarbeitungsarten eher in der richtigen Richtung
lösen zu können.
Ein Beispiel für diesen Aufgabentyp ist das Finden von Reimen und Synony~
men. Auch hier fand Bialystok (1987) Vorteile bei bilingualen Kindern, aber nur,
solange durch die Wortbedeutungen Irreführungen eingebaut waren.
Ebenfalls zu den verbalen Aufgaben mit irreführenden Aspekten gehören die
Substitutionsaufgaben, bei denen das Kind die Namen von Objekten vertauschen
muß. Die wohl berühmteste Aufgabe diese Art ist Piagets Sonne-Mond-Pro~
blem: das Kind muß sich vorstellen, daß die Sonne "Mond" heißt und umge~
kehrt. Dann wird gefragt, welcher Himmelskörper abends am Himmel steht.
Diese Frage ist noch nicht irreführend, ein Kind, das die Instruktionen verstan~
den hat und akzeptiert, daß der Namenstausch möglich ist, wird korrekt mit
"Sonne" antworten. Die folgende Frage bezieht sich auf die Farbe des Himmels.
Die richtige Anwort lautet "dunkel" "oder" "schwarz", da abends Dunkelheit
herrscht, unabhängig von unseren Bezeichnungen für die Himmelskörper.
Hier wird die gelernte Verbindung zwischen dem Wort Mond und dem übli~
cherweise damit bezeichneten Himmelskörper irreführend in Bezug auf die
Fragestellung, bei der das Kind die Eigenschaften des Mondes mit dem Begriff
"Sonne" assoziieren muß. Wenn das Kind sich nur auf die lange gelernte infra~
logisch-linguistische Verbindung konzentriert, wird es irregeführt. Zur richtigen
Lösung muß das Kind in logologischen Kategorien denken, und sich bewußt
machen, daß mit den Namen der Objekte nicht auch ihre Eigenschaften ausge~
tauscht werden.
A. Ianco-Worrall (1972) hat bei Aufgaben der verbalen Symbolsubstitution
Überlegenheit bilingualer Kinder gefunden.
Es ist überdies möglich, daß bilinguale Kinder eher als monolinguale einen Sinn
für die willkürliche Verknüpfung zwischen Wort und Bedeutung entwickeln, da
sie in ihrer Umgebung zwar keine Vertauschung von Namen, aber ständig die
Bezeichnung einer Sache mit verschiedenen Namen (in den beiden Sprachen)
erfahren.
J. Cummins (1978) hat bilingualen Kindern Aussagen über Poker-Chips, die dem
Blickfeld der Kinder entweder entzogen waren oder nicht, zur Beurteilung vor~
gelegt. Bei denjenigen Aussagen, deren Wahrheitsgehalt nicht von der aktuellen
(infralogischen) Konstellation der Chips abhängt, hatten sie weniger Schwierig~
keiten als die Kinder der monolinguale Vergleichsgruppe - das sind Tautolo~
gien, die an sich wahr sind, und Kontradiktionen, die an sich falsch sind. Zu
ihrer Beurteilung benötigt man also nur logologische Strukturen und wird
durch die Beobachtung der infralogischen Situation höchstens irregeführt.
Weiter fand Cummins (1978), daß bilinguale Kinder besser als monolinguale
Zweideutigkeiten in Sätzen finden und erklären konnten als monolinguale Kin~
der. Dies läßt sich damit erklären, daß sich die erste Bedeutung des Satzes in
Bezug auf die zweite, die zusätzlich noch gefunden werden muß, irreführend
auswirkt.
Perzeptuell-kognitive Aufgaben in irreführenden Situationen
Dieser Typ von nichtverbalen irreführenden Aufgaben verlangt zusätzlich zur
Wahrnehmung daran gekoppeltes logisches Folgerungsvermögen. Die anfängliche
Organisation der Stimulus-Situation, die oft noch durch Lernfaktoren oder Ge~
staltmerkmale gestützt wird, wirkt sich in Bezug auf die danach zur korrekten
Lösung nötige Reorganisation irreführend aus. Zur Überwindung dieser Schwie~
rigkeit benötigt man figurative und operative Mobilität. Die erste bezieht sich
auf die kognitiven Zustände und die zweite auf Strategien zu ihrer Verände~
rung.
Oben habe ich beschrieben, wie durch die Bilingualität die Herausbildung von
Dezentrierungsstrategien gefördert werden kann. Solche Strategien erleichtern
die notwendige Abwendung von der anfänglichen geistigen Konstruktion der
Stimulus-Situation und die Konzentration auf die Neustrukturierung.
Vielleicht ist die in der Studie von Peal und Lambert (1962) von den Forschern
festgestellte höhere "kognitive Flexibilität" der bilingualen Kinder auf solche
Mechanismen zurückzuführen. Eine der Aufgaben, bei denen Peal und Lambert
Vorteile bilingualer Kinder nachwiesen, ist der Raven-Matritzen-Test. Bei die~
sem Test benötigt man figurative Mobilität, um sich die Figur im freien Feld
vorzustellen, und operative Mobilität, um zwischen den durch die vorgegebenen
Figuren nahegelegten Formen auszuwählen. Beim Ergänzen der Figur kann man
Fehler machen, was etwa die Form der Figur betrifft, ihre Orientierung oder
ihre Position. Man kann die Aufgabe als irreführend ansehen, da man leicht bei
seiner Lösung beispielsweise nur zwei der drei Details betrachtet, die zur
korrekten Lösung gehören. Die beste Strategie ist wohl, die komplexe Figur
geistig in ihre Einzelheiten zu zerlegen und sie bei der Lösung entsprechend
zusammenzusetzen. Gestaltfaktoren der Wahrnehmung können sich irreführend
auswirken.
Auch K. Hakuta (1987) berichtet über einen Zusammenhang zwischen dem Bilin~
gualitätsgrad seiner Probanden und ihrer Leistung im Raven-Test, A. Ben-Zeev
(1977a) fand hingegen keine signifikanten Unterschiede.
Die gleiche Strategie wie beim Raven-Matritzen-Test wird auch bei der Gruppe
der "Embedded Figures Tests" benötigt. Hier ist eine einfache Form in einem
komplexeren Muster wahrzunehmen. Weil das komplexe Muster eine (mehr
oder weniger vertraue Figur: Lastwagen, Clown etc.) darstellt, enthält die Auf~
gabe einen irreführenden Aspekt. Man benötigt eine Dezentrierungsstrategie, um
geistig das Muster in seine Bestandteile zu zerlegen und in diesen nach der
einfachen Form zu suchen. Während etwa bei der oben beschriebenen verbalen
Aufgabe E. Bialystoks der Bedeutungsgehalt der zu zählenden Silben irrefüh~
rend wirkt, ist es hier der Informationsgehalt des optischen Eindrucks, von
dem man mit Hilfe des I-Operators seine mentale Aufmerksamkeit abziehen
muß, um sie (mit Hilfe des M-Operators) auf die relevanten Strukturen zu
konzentrieren.
Bei dieser Art von Aufgaben haben Balkan (1970) sowie DeAvila und Duncan
(1980) ein besseres Abschneiden bilingualer Kinder festgestellt.
Ein weiterer Typ perzeptuell-kognitiver Aufgaben sind die Erhaltungsaufgaben,
deren irreführenden Aspekt wir bereits im letzten Kapitel beschrieben haben.
Liedtke und Nelson haben (1968) Längenerhaltung untersucht, Feldmann und
Shen (1971) Objektkonstanz. Beide Gruppen fanden bei jungen bilingualen Kin~
dern Vorteile gegenüber den monolingualen Vergleichsgruppen gerade in den
Altersbereichen, in denen sich die entsprechenden logologischen Erhaltungskon~
zepte herausbilden. Auch Ben-Zeev (1977a) beobachtete bei bilingualen Kindern
Vorteile beim Vergleichen zweier Zylinder, die sich in Höhe und Gewicht un~
terschieden. Offenbar fiel es ihnen leichter, die Zentrierung auf nur eins der
relevanten Merkmale zu überwinden. Durch die bilinguale Erfahrung scheint die
spontane (also nicht auf gelernten Schemata beruhende) Lösung erleichtert zu
werden. Diese Kinder könnten Dezentrierungsstrategien entwickeln, mit denen
sie ihre Konzentration von den irreführenden Merkmalen der Situation weg auf
die relevanten logologischen, nichtperzeptuellen Schemata lenken.
Eine weitere Aufgabe (Ben-Zeev 1977b) ist das mehrfache Klassifizieren von
Gegenständen. Hier wirkt sich die Einteilung nach dem ersten Merkmal irre~
führend auf die zweite Klassifizierung aus, so daß viele Versuchspersonen auf
der ersten Klassifizierung beharren. In diesem Fall zeigt der Versuchleiter
durch Beispiele auf, wie ein solches Beharren zu Widersprüchen führt. Ben-
Zeev beobachtete, daß es bilinguale Kinder leichter fiel, aus diesen Widersprü~
chen die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht haben diese Kinder die
entsprechenden Dezentrierungsstrategien infolge von Widersprüchen erworben,
die aus den beiden Sprachsystemen resultieren. Dies könnte zu größerer opera~
tiver Mobilität und dadurch zu Vorteilen beim Wechseln der Strategie führen,
so daß erfolgreiche Restrukturierung wahrscheinlicher wird.
Aufgaben mit sprachlicher Kontrolle der Handlung
Bain und Yu (1980) haben die Beziehung zwischen Bilingualität einerseits und
der zunehmenden sprachliche Kontrolle von Handlungen durch das Kind ande~
rerseits untersucht, wobei sie sich auf die Theorie Vygotskys (1962) stützten.
Dabei wurden die Kinder im Alter von 22-24 und ein zweites Mal im Alter von
46-48 Monaten mit Aufgaben getestet, die von Luria (1961) stammen.
In jüngeren Alter wurden Aufgaben durchgeführt, bei denen das Kind jeweils
eine Murmel entweder unter einem Becher oder unter einer Tasse finden muß~
te, wo der Testleiter sie versteckt hatte, ohne daß das Kind dies beobachten
konnte. So mußte sich das Kind an den verbal vom Testleiter gegebenen Infor~
mationen orientieren. Diese wurden auf vier verschiedenen Weise gegeben:
1) Direkte Instruktion
"Die Murmel ist unter dem Becher. Finde die Murmel!"
2) Instruktion mit Verzögerung
"Die Murmel ist unter dem Becher.", 10 Sekunden Pause, "Finde die Murmel!"
3) Irreführende Instruktion
Dreimal hintereinander "Die Murmel ist unter der Tasse. Finde die Murmel!"
Und dann: "Die Murmel ist unter dem Becher. Finde die Murmel!"
4) Irreführende Instruktion mit Verzögerung
Dreimal hintereinander "Die Murmel ist unter der Tasse. Finde die Murmel!"
10 Sekunden Pause
Und dann: "Die Murmel ist unter dem Becher. Finde die Murmel!"
Die Verzögerung von 10 Sekunden bei den Aufgaben 2 und 4 zwingt das Kind,
den sprachlichen Ausdruck während dieser Zeit aktiv zu halten, dies kann vor
allem den irreführenden Charakter der Aufgabe 3 verstärken. Bei der Aufgabe 3
erwirbt das Kind in den ersten drei Durchgängen ein für den vierten Durchgang
inadäquates Schema. Die sprachliche Kontrolle der Handlung muß zur korrekten
Lösung der Aufgabe stark genug sein, dieses Schema zu durchbrechen. Die
Signalfunktion der Sprache könnte hier das Kind zu einer falschen Lösung
leiten, wenn es mit dem M-Operator das gelernte Handlungsschema aktiviert.
Benötigt wird eine zusätzliche Kontrolle der Handlung mit dem I-Operator, um
das irreführende Schema zu überwinden.
Zwischen den bilingualen und den monolingualen Gruppen zeigten sich konsi~
stent Unterschiede zugunsten der bilinguale Gruppen, die aber nicht signifikant
waren.
Bei dieser Aufgabe sind sicher Kinder im Vorteil, die unterschiedliche infralo~
gische Referenten für die Objekte Tasse und Becher konstruiert haben. Da bei~
de Objekte im wesentlichen demselben Zweck dienen, ist dies für so junge
Kinder nicht selbstverständlich, könnte aber durch die häufige sprachliche Va~
riierung -wie oben beschrieben - in einer bilingualen Lernumgebung gefördert
werden.
Im Alter von vier Jahren wurden die Kinder einem anderen Test unterzogen.
Das Kind sollte einen Ball drücken, und sich dabei an verbale Instruktionen
halten, die das Aufleuchten zweier Lichter betrafen. Für die Aufgabe gab es
drei Versionen:
1) Befolgen von Instruktionen
"Wenn das rote Licht angeht, drück den Ball!" oder "Wenn das grüne Licht an~
geht, drück den Ball nicht!"
2) Laute Selbstinstruktion
"Wenn das grüne Licht angeht, sag >drücken< und drück den Ball! Sag es und
tue es!"
Wenn das rote Licht angeht, sag <drücken<, aber drück den Ball nicht! Sag es,
aber tue es nicht!"
"Wenn das rote Licht angeht, sag >drücken< und drück den Ball! Sag es und
tue es! Wenn das grüne Licht angeht, sag >nicht drücken< und drück den Ball
nicht! Sag es, aber tue es nicht!"
3) Stille Selbstinstruktion
s. Version 2), aber mit anstatt "sagen" nur "zu sich selbst sagen"
Offensichtlich enthalten die Versionen 2) und 3) irreführende Aspekte. Die
sprachliche Handlung aktiviert auf Grund der Signalfunktion motorische Hand~
lung, das Kind muß über effektive Kontrollstrategien verfügen, um die Aufgabe
richtig zu lösen. Dies kann mit Hilfe des I-Operators geschehen, der das irre~
levante Schema unterdrücken muß. Jeder Autofahrer kennt die Situation, vor
einer roten Ampel konzentriert auf das Grünsignal zu warten. Auch beim Um~
springen einer anderen Ampel (z.B. das Rotwerden der Fußgängerampel) im
Sichtfeld des Autofahrers zuckt dann sein Fuß zum Pedal, oder seine Hand zur
Schaltung, und er muß den Impuls, loszufahren, unterdrücken, wenn er be~
merkt, daß seine Ampel noch auf rot steht.
Die besondere Schwierigkeit bei Version drei besteht darin, daß das Kind ver~
suchen muß, lautes Sprechen zu unterdrücken, obwohl gerade das laute Spre~
chen in vielen Lernsituationen gefördert wird.
Bei Lurias Aufgabe, bei der die Sprache statt ihrer direkt auslösenden Signal~
funktion eher ihre vermittelnde, regulierende Symbolfunktion hat, ist es gün~
stig, wenn keine zu enge Verbindung zwischen der linguistischen Struktur und
dem Handlungsschema mehr besteht. Wie oben beschrieben kann die Ablösung
der verschiedenen Wissensstrukturen durch eine bilinguale Umgebung gefördert
werden.
Aufgaben ohne irreführende Aspekte
Die Literatur berichtet von vielen verbalen Aufgaben, bei denen keine Vorteile
von bilingualen gegenüber monolingualen Kindern festgestellt werden konnten.
Eine Analyse diese Aufgabe zeigt, daß diese keine irreführende Aufgaben sind.
Beispielsweise wird der Peabody Pictures Vocabulary Test (PPVT) häufig bei
Studien zur Bilingualität eingesetzt. Beim PPVT wird der Versuchsperson ein
Wort vorgegeben, zu dem sie dann aus vier Bildkarten die passende auswählen
muß. Hier gibt es keine irrelevanten Aspekte, die man mit Hilfe geeigneter
Strategien unterdrücken müßte. Bei der Aufgabe geht es nicht um grammati~
sche Strukturen, es kommt nur darauf an, den Referenten eines vorher gelern~
ten Worts als Zeichnung zu erkennen.
Ben-Zeev (1977a, 1977b) und Bialystok (1988) haben beim PPVT Vorteile zugun~
sten der monolingualen Kinder gefunden. Dies erklärt sich dadurch, daß bilin~
guale Kinder im Bereich Wortschatz eine umfangreichere Lernaufgabe zu be~
wältigen haben als die monolingualen; wenn sie ihre sprachlichen Erfahrungen
zum Aufbau eines Wortschatzes in beiden Sprachen verwenden, ist ein solcher
Rückstand ja zu erwarten,
hnlich verhält es sich mit der Aufgabe der paradigmatischen Wortassoziation.
Hier muß man ein Wort finden, daß -aufgrund semantischer oder linguisti~
scher Merkmale- zu einem vorgegebenen Stimulus-Wort paßt. Ben-Zeev (1977a,
1977b) sagte hier Vorteile für bilinguale Kinder voraus, da deren konzeptuellen
Kategorien weiter entwickelt seien. Als sie keine Gruppenunterschiede beobach~
tete, schrieb sie dieses Ergebnis dem geringeren Wortschatz der bilingualen
Kinder zu.
Analysiert man die Aufgabe nach der vorgestellten dialektisch-strukturalisti~
schen Theorie, kommt man allerdings zur Schlußfolgerung, daß sie keine irre~
führenden Aspekte beinhaltet. Das Stimulus-Wort aktiviert andere Strukturen,
und das am stärksten aktivierte Wort bestimmt die Lösung der Aufgabe durch
die Versuchsperson. Dabei ist keine Regulierung zwischen M-Operator und I-
Operator nötig, die durch eine besondere Strategie gesteuert werden muß, denn
es gibt keine irrelevanten Strukturen, die mit der richtigen Lösung in Konflikt
treten können. Insofern ist die paradigmatische Wortassoziation nicht irrefüh~
rend, sondern es handelt sich um eine "erleichternde" Aufgabe, wie Johnson es
nennt ("facilitating").
Bei der Aufgabe, formale Definitionen aufzustellen, gibt es ebenfalls keine ir~
reführenden Aspekte. Bei C. Snows Untersuchung (1991) zeigten sich keine
Gruppenunterschiede, und in der bilingualen Gruppe waren die Kinder in ihrer
stärkeren Sprache nur wenig besser bei der Definitionsaufgabe als in ihrer
schwächeren Sprache.
Entsprechend den oben beschriebenen Methoden "bottom-up" und "top-down"
gibt es für ein Kind zwei Möglichkeiten, diese Aufgabe zu lösen. Es kann auf
der einen Seite für den zu definierenden Begriff ein oder mehrere Beispiele
angeben und so die Aufgabe auf dem infralogischen Niveau lösen. Dazu muß
es nur über die entsprechenden infralogischen Strukturen verfügen, d.h. einige
solche Beispiele kennen (und natürlich die entsprechenden linguistische Struk~
turen). Die zweite Art der Lösung ist anspruchsvoller und kann von älteren
Kindern geleistet werden: das Kind findet und benennt die Gemeinsamkeiten
der oben beschriebenen infralogischen Strukturen. Dazu abstrahiert es daraus
also die zugrundeliegende Invariante in eine logologische Struktur, die dem zu
definierenden Begriff entspricht. Dazu ist sicher mentale Aufmerksamkeit nötig,
eine irreführende Aufgabe ist das Definieren aber dennoch nicht, weil keine
irrelevanten Strukturen durch die Aufgabenstellung nahegelegt werden.
Johnson (1991) hat eine eigene Untersuchung zur Bilingualität durchgeführt, bei
der es um das Verstehen von Metaphern ging. Beim Interpretieren einer Meta~
pher müssen die Versuchspersonen semantische Transformationen vornehmen.
Der Entwicklungserfolg bei der Aufgabe Metapher-Interpretation kann am
Komplexheitsgrad der Transformationen gemessen werden, den eine Versuch~
sperson bewältigen kann.
Um den Satz "Laura ist eine Gazelle" zu verstehen, muß man passende Eigen~
schaften der Gazelle (Anmut, Schnelligkeit) auf das Mädchen Laura übertragen.
Dabei ist es natürlich nötig, die Bedeutung der benutzten Ausdrücke zu kennen
und die entsprechenden Eigenschaften. Auch muss man in der Lage sein, Ge~
meinsamkeiten zu abstrahieren, und vielleicht ist auch manchmal Fantasie nötig
Auf jeden Fall ist aber das gesamte verfügbare Wissen der Versuchsperson
über die Gegenstände der Metapher relevant für die Lösung der Aufgabe, zu~
mindest ist es schwer vorstellbar, daß ein assoziierter Aspekt nicht nur irrele~
vant ist, sondern auch noch zu einer falschen Beantwortung führt. Also ist das
Verstehen oder Erklären von Metaphern keine irreführende Aufgabe, und es
gibt keinen Grund, bei bilingualen Kindern bessere Leistungen zu erwarten als
bei monolingualen.
Entsprechend hat Johnson bei ihrer Auswertung auch keine Unterschiede zwi~
schen den Gruppen (bilinguale Gruppe, marginal bilinguale Gruppe, monolingua~
le Gruppe) gefunden.